Alte Schätze – neu geborgen

Vor ein paar Tagen kramte meine 79-jährige Mama in einer alten Erinnerungsschachtel. In einer schlichten, leicht eingedrückten Pappkiste lagen sie – kleine Schätze aus unserer Kindheit: Postkarten, Fotos, bunte Zeichnungen, zarte „Liebesbriefchen“ aus Kindertagen. Und mittendrin ein gefalteter Zettel.

Eindeutig meine Handschrift – krakelig, jung. Ein Gebet, das ich irgendwann als Mädchen – vielleicht mit zehn oder zwölf Jahren – aufgeschrieben hatte. Ein Gebet, das meine Großmutter jeden Abend mit mir sprach, wenn ich bei ihr übernachtete.

Ich halte den Zettel in den Händen, und plötzlich sehe ich uns wieder vor mir: meine Oma und mich, eng aneinandergeschmiegt unter der schweren Decke. Draußen war es längst dunkel. Ihre Stimme – ruhig und warm. Sie erzählte Geschichten – von ihrer Kindheit, vom Himmel, von einem Gott, der uns nie vergisst. Und immer, bevor wir die Augen schlossen, sagte sie mit sanftem Ernst: „Jetzt falten wir die Hände und beten.“

Dann begann das Gebet. Lang, getragen, beinahe feierlich. Für mein kindliches Empfinden schien es kein Ende zu nehmen – und doch war es tröstlich, wie eine geistige Umarmung:

Nun sich der Tag geendet hat und keine Sonn mehr scheint,
schläft alles, was sich abgematt‘ und was zuvor geweint.

Nur du, mein Gott, hast keine Rast, du schläfst noch schlummerst nicht;
die Finsternis ist dir verhasst, weil du bist selbst das Licht.

Gedenke, Herr, doch auch an mich in dieser schwarzen Nacht
und schenke du mir gnädiglich den Schutz von deiner Wacht.

Zwar fühl ich wohl der Sünden Schuld, die mich bei dir klagt an;
ach, aber deines Sohnes Huld hat g’nug für mich getan.

Den setz ich dir zum Bürgen ein, wenn ich muss vors Gericht;
ich kann ja nicht verloren sein in solcher Zuversicht.

Weicht, nichtige Gedanken, hin, wo ihr habt euren Lauf,
ich baue jetzt in meinem Sinn Gott einen Tempel auf.

Drauf tu ich meine Augen zu und schlafe fröhlich ein,
mein Gott wacht jetzt in meiner Ruh; wer wollt doch traurig sein?

Soll diese Nacht die letzte sein in diesem Jammertal,
so führ mich, Herr, in’n Himmel ein zur Auserwählten Zahl.

Und also leb und sterb ich dir, du Herre Zebaoth;
im Tod und Leben hilfst du mir aus aller Angst und Not.

Obwohl ich dieses Gebet seit über 25 Jahren nicht mehr gesprochen habe, kommen mir die Worte wie selbstverständlich über die Lippen. Als wären sie nie wirklich verschwunden, nur irgendwo tief in mir verschlossen.

Was für ein Schatz.

Ich bin dankbar – für eine Großmutter, die mehr gegeben hat als nur Gute-Nacht-Geschichten. Die mir durch ihre Worte ein Bild von Gott schenkte: wachsam, lichtvoll, gütig. Eine, die mir zeigte, dass Glaube nichts Lautes sein muss. Dass er in der Stille wächst, in Ritualen, in der Wiederholung.

Und heute, Jahrzehnte später, spüre ich einen stillen Wunsch in mir aufsteigen: Auch ich möchte so eine Großmutter sein. Für mein Enkelkind. Vielleicht mit anderen Worten, anderen Gebeten. Vielleicht wird manches für ihn fremd klingen – aber ich hoffe, dass uns diese stillen Abendmomente geschenkt werden. Heilige Minuten, in denen ein kleines Kinderherz vom Himmel gestreift wird. Und ein leiser Same der Hoffnung gesät wird – ein Schatz, der erst viel später entdeckt, vielleicht sogar wieder ausgegraben wird.

Vielleicht hast auch du Lust, auf Schatzsuche zu gehen. In alten Erinnerungen zu kramen. Zu entdecken, welche Spuren Eltern und Großeltern in deinem Leben hinterlassen haben.

Mach dich auf den Weg. Und staune, was du findest.

Manchmal sind es die kleinen Dinge, die bleiben. Ein gefalteter Zettel. Ein gesprochenes Gebet. Eine Erinnerung, die leuchtet.

Ⓒ Foto: Ingimage

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